Ein Raum zwischen dem Gestern, dem Heute und dem Morgen: Pilotvorhaben für ein Dokumentationszentrum zum NSU-Komplex in Sachsen

Ein Raum zwischen dem Gestern, dem Heute und dem Morgen: Pilotvorhaben für ein Dokumentationszentrum zum NSU-Komplex in Sachsen

Zwischen 2000 und 2007 wurden zehn Menschen durch den sogenannten Nationalsozialistischen Untergrund ermordet. Viele weitere wurden bei Sprengstoffanschlägen und Raubüberfällen verletzt. Bis heute ist der NSU-Komplex nicht aufgeklärt – und bis heute wissen Angehörige und Freund*innen nicht, warum die Opfer ausgewählt und ermordet wurden.

Bereits 2006 machten die Familien der Opfer des NSU gemeinsam mit mehreren Hundert Menschen auf einer Demonstration in Kassel mit dem Aufruf «kein 10. Opfer» auf einen Zusammenhang der bis dahin neun bekannten Morde aufmerksam und forderten, die Ermittlungen auf ein rassistisches Tatmotiv hin zu untersuchen. Trotz ihres Wissens und ihrer Hinweise wurde ihnen kein Glauben geschenkt, sie wurden durch die rassistische Berichterstattung und Ermittlungen kriminalisiert und selbst beschuldigt.

Viele Taten bleiben weiterhin ohne Konsequenzen und das Netzwerk des NSU wurde nicht umfassend aufgedeckt. Erst 2011 enttarnten sich drei der Täter des selbsternannten NSU selbst. Täter*innen-Netzwerke aber bestehen fort.

Es braucht einen Raum der Hoffnung: auf gesellschaftliche Veränderung, Solidarität und gemeinsames (Ver)lernen

Es braucht einen Raum der Hoffnung: auf gesellschaftliche Veränderung, Solidarität und gemeinsames (Ver)lernen

Die Leerstellen der Aufarbeitung durch staatliche Institutionen und auch die gesellschaftliche Ignoranz sind schmerzhaft – besonders für die Betroffenen und die Angehörigen der Opfer des NSU-Komplexes. Es ist ihrem Engagement, ihrer Kraft und ihrem Widerstand zu verdanken, dass es in der Aufarbeitung Bewegung gab und weiterhin gibt. Nötig ist aber die Verantwortungsübernahme der gesamten Gesellschaft. Es darf hier keinen Schlussstrich geben.

Deshalb möchten wir einen Raum schaffen, in dem es möglich ist, den Opfern des NSU zu gedenken, zu erinnern und zu lernen. Ein Raum zwischen dem Gestern, dem Heute und dem Morgen, in dem Lehren aus der unzureichenden Aufklärung für die postmigrantische Gesellschaft gezogen werden können. Es braucht einen solchen Raum der Hoffnung: auf gesellschaftliche Veränderung, Solidarität und gemeinsames (Ver)lernen.

Die beteiligten Projektpartner – RAA Sachsen e.V., ASA-FF e.V. und Initiative Offene Gesellschaft e.V. – setzen nach dem jahrelangen Engagement verschiedener Partner*innen ein Pilotvorhaben für ein Dokumentationszentrum zum NSU-Komplex in Sachsen um. Die sächsische Staatsregierung hat in ihrem Koalitionsvertrag 2019 beschlossen, einen solchen Ort zu unterstützen.

Das Pilotvorhaben für ein Dokumentationszentrum zum NSU-Komplex in Sachsen wird Bestandteil des Programms Kulturhauptstadt 2025 in Chemnitz sein. Damit bietet sich für die Stadt Chemnitz und die Region die Chance, sich auch mit herausfordernden Aspekten gesellschaftlicher Vergangenheit und Gegenwart auseinanderzusetzen. Gleichzeitig erfährt der NSU-Komplex über das breit wahrgenommene Programm der Kulturhauptstadt internationale Sichtbarkeit.

Unter dem Dach des Pilotvorhabens für ein Dokumentationszentrum zum NSU-Komplex in Sachsen werden die Ausstellung «Offener Prozess», Veranstaltungen, ein Archiv, ein Forschungsbereich, Bildungsangebote, künstlerische Vermittlung und ein Ort der Erinnerung und des Gedenkens, eine sogenannte Assembly, zusammenfinden.

Die Ausstellung «Offener Prozess» widmet sich dem NSU-Komplex. Sie nimmt dabei die ostdeutsche Realität, insbesondere in Sachsen, zum Ausgangspunkt, um eine Geschichte des NSU-Komplexes zu erzählen. Ausgehend von den Migrationsgeschichten und den Kontinuitäten rechter und rassistischer Gewalt und des Widerstandes dagegen, erzählen die Werke von ihrem Leben, ihren Kämpfen, ihrem Tod, ihrer Trauer und ihren Perspektiven. Mit dem Ansatz eines «lebendigen Erinnerns» rückt sie marginalisierte Perspektiven in den Mittelpunkt.

Darüber hinaus nimmt sie strukturellen und institutionellen Rassismus ins Visier. So können sich Besucher*innen der Geschichte des NSU-Komplexes annähern,  die die Geschichte der Migration in den Fokus nimmt und Kontinuitäten rechter und rassistischer Gewalt und des Widerstandes dagegen deutlich macht.

Mit der Assembly als Ort der Erinnerung und Zusammenkunft werden barrierefreie Räume für Betroffene von rechter Gewalt geschaffen – Räume, die für Selbstorganisation, Empowerment, Vereinsarbeit, Jugendangebote sowie Beteiligung in den anderen Arbeitsbereichen zur Verfügung stehen.

Sie ermöglicht ein stärkendes Gedenken von Betroffenen und ist damit eine wichtige Schnittstelle zwischen allen Säulen des Pilotvorhabens für ein Dokumentationszentrum zum NSU-Komplex in Sachsen. Darüber hinaus sollen Assembly und Ausstellungsräumlichkeiten multifunktional für Bildung, Vermittlung, Kultur- und Diskussionsveranstaltungen genutzt werden können.